Gewalt und Aggression

RW Gewalt und Aggression

Immer häufiger berichten Einsatzkräfte des Rettungsdienstes von Behinderungen und zum Teil von gewalttätigen Übergriffen im Einsatz. Beschimpfungen, Drohungen oder gar körperliche Übergriffe durch Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen und Schaulustige gehören für viele Versicherte zum Arbeitsalltag. Solche Vorfälle werden häufig bagatellisiert und in ihren Auswirkungen unterschätzt, obwohl sie für die Betroffenen oft gravierende psychische und körperliche Folgen haben können.

Schlagen, wegschubsen oder anspucken – das sind häufige aggressive Übergriffe gegen Rettungskräfte. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Gewalt gegen Rettungskräfte im Einsatz“, die am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (UK NRW) 2011 durchgeführt wurde. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch die aktuelle Studie „Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen“ 2017.

Folgen für die Betroffenen

Körperschäden resultieren aus der Art des Übergriffs wie beispielsweise Schläge, an Kleidung und Haaren zerren, Arm verdrehen, kratzen und beißen, Würgegriffe, Gegenstände werfen und Messerstechen. Die Folgen sind Kratz-, Biss- und Schürfwunden, Prellungen, Schwellungen, Hämatome oder ausgerissene Haare als weniger schwere physische Schäden.

Frakturen, Gehirnerschütterungen und andere schwere Verletzungen sind dagegen eher seltener, kommen aber vor. Zudem besteht eine potenzielle Infektionsgefahr bei Übergriffen durch Kontakt mit Blut und Körperflüssigkeiten.

Das Erleben der Tat, eine mögliche Infektion sowie Zweifel an der beruflichen Kompetenz, falsch oder unangemessen in der Übergriffssituation gehandelt zu haben, können zu psychischen Belastungen führen. Als Folge können das ungewollte Wiedererleben des bedrohlichen Ereignisses oder die damit verbundenen Empfindungen wie Erinnerungen, Gefühlszustände und Albträume bis hin zum Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung auftreten.

Aggressionen gegen Einsatzkräfte sind nicht nur körperliche Übergriffe. Drohungen, Beleidigungen und Beschimpfungen sind weitaus häufiger zu verzeichnen als körperliche Aggressionen. Obwohl diese keine körperlichen Auswirkungen haben, können sie zu einer erheblichen Belastung für die Betroffenen führen.

Die Ergebnisse der durchgeführten Studien zeigen den dringenden Handlungsbedarf zum Schutz der Rettungskräfte auf. Über die Hälfte der Befragten in der Studie aus dem Jahr 2011 gab an, dass sie auf derartige konfliktreiche Situationen nicht vorbereitet waren. Gewalt im Rettungsdienst darf somit kein Tabuthema mehr sein und ist für eine zielgerichtete Prävention zum Schutz der Versicherten zu enttabuisieren.

Mit der Studie „Posttraumatische Belastungsstörungen und andere Folgen nach Patientenübergriffen“, die von Prof. Dr. Dirk Richter, FH Bern, in Kooperation mit der Unfallkasse NRW durchgeführt wurde, konnte belegt werden, dass Patientenübergriffe posttraumatische Belastungsstörungen hervorrufen können.

Opfer schwerer Übergriffe sind in dieser Hinsicht nach dem Übergriff vergleichbar mit Kriminalitätsopfern. Nach einem schweren psychisch belastenden Ereignis besteht für etwa 15 bis 20 % der Betroffenen das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung davonzutragen. Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger und Personen mit einer Berufserfahrung von weniger als 15 Jahren sind besonders gefährdet.

Die Frage, was hätte in der Situation nach dem Übergriff helfen können, wurde u. a. beantwortet mit:

  • Arbeitsstelle verlassen können! Abstand bekommen! Gespräche, um die Situation aufzuarbeiten!
  • Unterstützung durch Vorgesetzte, das Wissen, dass man nicht allein ist.
  • Gespräche, hätte Unterstützung gebraucht, aber keiner hat mit mir gesprochen.
  • Mehr Unterstützung und Tipps von der Leitung, wie man mit so etwas umgehen kann.

Bei den Einsätzen der Rettungsdienste steht die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten im Vordergrund. Jedoch darf bei allem Einsatz des Rettungsdienstpersonals der eigene Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht vernachlässigt werden. Diejenigen, die sich um die Gesundheit anderer kümmern, haben Anspruch auf die eigene Gesunderhaltung.

Der Arbeitgeber hat nach dem Arbeitsschutzgesetz die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit betreffen. Er trägt gegenüber seinen Beschäftigten eine „Fürsorgepflicht“ (§ 618 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB), die im Arbeitsschutzrecht konkretisiert wird.

Grundlage für die zu treffenden Maßnahmen zur Prävention von Übergriffen ist die Gefährdungsbeurteilung. In ihr sind die potenziellen Gefährdungen und Bedrohungslagen durch Übergriffe von Patientinnen, Patienten und Dritten zu ermitteln und zu beurteilen, welche Arbeitsschutzmaßnahmen zum Schutz der Rettungskräfte zu treffen sind.

Diese sind im Rettungsdienst sehr komplex und erfordern eine abstrakte Herangehensweise, da niemand im Vorfeld die potenziellen Gefährdungen und Gegebenheiten am unbekannten Einsatzort vorhersehen kann. Hierbei sind die Erfahrungen des Rettungsdienstpersonals einzubeziehen, da keiner ihre Arbeitsbedingungen besser kennt als sie selbst.

Ergebnis sollte ein ganzheitliches betriebliches Präventionskonzept erläutern, das Ursachen aufzeigt und geeignete Maßnahmen zur Prävention von Übergriffen festlegt. Diese müssen konsequent umgesetzt und durch ausreichende Nachsorgeangebote nach Übergriffen ergänzt werden.

Die Auswahl der Schutzmaßnahmen ist immer auf Grundlage der Gefährdungsbeurteilung zu treffen. Da die Quantität und die Qualität der Gewalt sich z. B. in Abhängigkeit des Einsatzortes (z. B. Stadt oder Land) wesentlich unterscheiden, sind angemessene Präventionsmaßnahmen nur nach einer Analyse der Vorkommnisse zu gewährleisten. Als geeignete Maßnahmen zum Schutz von Einsatzkräften vor Gewalt sind folgende Punkte beispielhaft zu nennen:

  • Deeskalationsschulungen (u. a. deeskalierendes Verhalten, Selbstreflexion des eigenen Verhaltens)
  • Schulung von Interventionstechniken bzw. körperliche Abwehrtechniken
  • Verbesserung der Kommunikation mit der Leitstelle und den polizeilichen Einsatzkräften
  • Klare Anweisungen zum Einsatzverhalten bei Gefährdungssituationen
  • Fortbildung zum Thema „Zulässige Maßnahmen bei Übergriffen (Notwehr)“
  • Fortbildung zum Thema „Drogen, Suchtmittel und ihre Wirkungen“
  • Fortbildungen zum Thema „Kulturelle, religiöse und migrationsspezifische Besonderheiten“
  • Einsatz geeigneter PSA, z. B. Schutzwesten
  • Technische Alarmierungseinrichtung, z. B. Handy
  • Nachsorge
  • Dokumentation von Übergriffen
  • Meldung an den zuständigen Unfallversicherungsträger

Schulung und Unterweisung der Rettungskräfte

Arbeits- und Gesundheitsschutz ist durch die wechselseitige Verknüpfung von Arbeitgeber- und Mitarbeiterpflichten gekennzeichnet. Zu den personenbezogenen Schutzmaßnahmen, die durch den Arbeitgeber zu gewährleisten sind, gehören unter anderem die Auswahl der Rettungskräfte nach ihrer Befähigung und Qualifikation sowie die Sicherstellung regelmäßiger und angemessener Schulungen und Unterweisungen.

Diese sind unabdingbar, um auf konfliktreiche Situationen und das richtige Verhalten vorbereitet zu sein. Rettungskräfte müssen bereits in der Ausbildung umfassend auf den Umgang mit Gewalt und Aggression vorbereitet werden. Gerade für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger besteht ein erhöhtes Risiko.

Die Erfahrung zeigt, dass einzelne Schulungen der Versicherten nicht ausreichen, um die erforderlichen Kompetenzen zur Konfliktbewältigung zu erlangen. Es ist zu empfehlen, die Schulung zur Konfliktbewältigung als festen Bestandteil in die Aus-, Fort- und Weiterbildung zu integrieren. Bundesweit gibt es Anbieter im Bereich „Ausbildung von Multiplikatoren zum Konfliktmanagement im Gesundheitsdienst“, die Deeskalationstrainerinnen und Deeskalationstrainer (Multiplikatoren) nach den betriebsspezifischen Erfordernissen ausbilden.

Deeskalation

Grundsätzlich gilt: Konflikte vermeiden und eine aggressionsarme Atmosphäre schaffen.

Das Rettungsdienstpersonal sollte selbstreflektierend in der Lage sein, die Kommunikation auf die besondere Situation von Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen auszurichten. Viele Patientinnen und Patienten leiden unter Spannungszuständen. Ihre innere Not und Aggression äußern sie häufig durch Schreien, Beleidigungen, Provokationen, Schlagen und Gewalt gegen Sachen.

Mit der bewussten Wahrnehmung und Interpretation solchen Verhaltens tragen die Rettungskräfte bereits zur Deeskalation und damit zur Vermeidung weiterer Aggression bei.


Wer in der Lage ist, Konfliktsituationen frühzeitig zu erkennen, und über die notwendigen verbalen und nonverbalen Kommunikationstechniken verfügt, hat Chancen, eine kritische Situation zu beherrschen, die andernfalls möglicherweise entgleisen würde.

In vielen Fällen geht einem körperlichen Angriff eine stufenweise Steigerung der Aggression voraus. Die Grundregeln der Deeskalation helfen, Gewalt zu vermeiden. Hierzu gehören beispielsweise: 

  • Eine adäquate verbale Kommunikation
  • Eine ruhige klare Ansprache, eindeutige Aussagen, Vermeidung komplizierter Formulierungen
  • Aufbau einer kommunikativen Beziehung durch ein nicht wertendes und nicht kritisierendes Vorgehen
  • Paraphrasieren („Ich verstehe, dass …“) der Botschaft der Gesprächspartnerin bzw. des Gesprächspartners
  • Ich-Botschaften verwenden („Ich glaube, dass …“)
  • Geschlossene Fragen vermeiden (Fragen, die nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können)
  • Adäquate nonverbale Kommunikation
  • Gestik und Mimik, provozierende Körpersprache und Handlungen vermeiden
Abwehr-, Befreiungs- und Fixierungstechniken

Gelingt es nicht, die Situation zu entschärfen, und kommt es zu einem Übergriff, können Kenntnisse in körperschonenden Abwehr- und Befreiungstechniken dazu beitragen, Gesundheitsschäden bei Patientinnen und Patienten und Rettungskräften zu vermeiden.

Lange, offen getragene Haare, Schmuck und Piercings können hierbei das Verletzungsrisiko erheblich erhöhen. Die Anwendung körperlicher Abwehrtechniken und Selbstverteidigung sollte das letzte Mittel der Gefahrenabwehr sein. Sie sollten nur angewendet werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Eine wirkungsvolle Nutzung dieser Techniken kann nur durch ein regelmäßiges Training gewährleistet werden. Es gelten die Bestimmungen des Strafgesetzbuches unter besonderer Berücksichtigung der §§ 32 ff StGB (Notwehr/Notstand).

Organisatorische Maßnahmen und persönliche Schutzausrüstung

Zur Prävention von Übergriffen gehören auch die Kommunikation, die Situationserfassung und Weitergabe der Einsatzgegebenheiten durch die Leitstelle an das Rettungsdienstpersonal, die bereits im Vorfeld auf kritische Einsatzlagen hinweisen. Damit der Informationsgehalt nicht abhängig von den handelnden Personen in der Leitstelle ist, wären standardisierte Fragebögen zur Informationserfassung hilfreich. Hierzu gehören präventiv ggf. auch die Alarmierung und die Kommunikation mit der Polizei. Zum Einsatzverhalten bei Gefährdungssituationen sind klare Anweisungen zu treffen.

Die Kommunikation mit der Leitstelle sollte auch möglich sein, wenn der Rettungs- oder Notarztwagen verlassen wird. Zeitweise kann die Situation eines gefährlichen „Alleinarbeitsplatzes“ entstehen, die ggf. eine direkte Kommunikation mit der Leitstelle erfordert. Aufgrund des Ergebnisses der Gefährdungsbeurteilung ist zu prüfen, ob durch die Ausstattung mit Diensthandys oder besser noch durch digitale Funkmeldeempfänger mit Notruffunktion eine Verbesserung der Sicherheit zu erzielen ist („Notrufmöglichkeiten für allein arbeitende Personen“, DGUV-Information 212-139). [1720]

In Abhängigkeit von den möglichen Einsatzgegebenheiten bzw. Gefährdungen ist zu klären, ob persönliche Schutzausrüstung bereitzustellen und zu tragen ist. Dies können beispielsweise geeignete Schutzwesten sein, die wie Warnwesten aussehen und dadurch Patientinnen und Patienten und Angehörige nicht abschrecken oder gar aggressives Verhalten fördern. Weitere Informationen zum Thema Schutzwesten können Sie dem Artikel „Einsatz von Schutzwesten im Rettungsdienst“ entnehmen.

Die konsequente Dokumentation und Auswertung sämtlicher Übergriffe – ob körperlich nonverbal oder verbal – gehört zur Prävention. Eine strukturierte Nachbereitung zeigt die Wirksamkeit genutzter Bewältigungsstrategien und lässt Fehler erkennen. Die Dokumentation hat auch einen versicherungsrechtlichen Aspekt, da hiermit im Einzelfall der Nachweis für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls geführt werden kann.

Nachsorge

Versicherte haben grundsätzlich das Recht, nach einem Ereignis am Arbeitsplatz, das sie als psychisch belastend empfunden haben, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Psychisch belastende Ereignisse können neben dem Erleben von Aggression auch Situationen im Zuge der Patientenversorgung sein, in denen sie mit menschlichem Leid konfrontiert werden.

Um auf diese Fälle vorbereitet zu sein, sollten der Betrieb „Leitlinien für den Umgang mit belastenden Situationen“ erstellen. Hinweise hierzu gibt die Informationsschrift „Traumatisierende Ereignisse in Gesundheitsberufen“, DGUV Information 207-012. [1726]


Meldung von traumatisierenden Ereignissen

Haben Einsatzkräfte im Dienst ein traumatisierendes Ereignis erlitten, besteht die Möglichkeit, dies als Arbeitsunfall zu melden. Für die Meldung derartiger Arbeitsunfälle sollten folgende Hinweise beachtet werden:

Bei Wunsch eines/einer Versicherten auf Inanspruchnahme der fünf probatorischen Sitzungen nach dem sogenannten „Psychotherapeutenverfahren“ ist die sofortige telefonische Kontaktaufnahme (z. B. des/der Versicherten, des/der Dienstvorgesetzten oder des „kollegialen Helfers/der kollegialen Helferin“) mit der Unfallkasse NRW ratsam.

Der Anruf sollte über die Telefonzentrale der Unfallkasse NRW erfolgen
(Rufnummer: 0251/2102-0 (Westfalen-Lippe) oder 0211 9024-0 (Rheinland)), da so in jedem Fall die Vermittlung an die Schwerfallsachbearbeitung der Rehabilitationsabteilung gewährleistet ist.

Bei der telefonischen Unfall-(Ereignis-)Meldung ist das eingetretene Ereignis zu schildern. Ferner sind Angaben zur Person des/der Versicherten erforderlich. Die zuständige Sachbearbeitung wird anhand der telefonisch übermittelten Informationen feststellen, ob das „Psychotherapeutenverfahren“ Anwendung finden kann. Sind die Voraussetzungen erfüllt, wird der betroffenen Person umgehend eine Liste von geeigneten Psychotherapeutinnen bzw. Psychotherapeuten in ihrer Nähe zur Auswahl übermittelt und umgehend ein Behandlungsauftrag zulasten der Unfallkasse NRW erteilt.

Erforderlich ist anschließend die Erstellung der Unfallanzeige (möglichst per FAX unter der Faxnummer: 0251/2102-3361 (Westfalen-Lippe) oder 0211 9024-1355 (Rheinland)) mit nochmaliger genauer Schilderung des Ereignisses und Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprechpartners für Rückfragen der Unfallkasse NRW.

Eine Vorstellung bei einer Durchgangsärztin oder einem Durchgangsarzt ist nicht zwingend erforderlich, sofern ausschließlich eine psychische Beeinträchtigung vorliegt. Die Vorstellung ist notwendig bei bestehender Arbeitsunfähigkeit und/oder körperlichen Verletzungen. Liegen ausschließlich psychische Beeinträchtigungen vor und besitzt die bzw. der aufgesuchte Psychotherapeut(in) gleichzeitig die ärztliche Approbation, kann eine bestehende Arbeitsunfähigkeit auch von ihr bzw. ihm festgestellt werden. Eine Vorstellung beim Durchgangsarzt oder einer Durchgangsärztin ist dann entbehrlich.

Stand: 10/2022
Webcode: w35